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5. Januar 2021
Redaktion

Innovationsstau abbauen, Qualitätsoffensive ausbauen

(12/2020) von Oda Hagemeier, Geschäftsführerin Eurocom e.V.
Die hohe Relevanz von Hilfsmitteln im Allgemeinen und Orthesen im Besonderen – für den Patienten und für das Gesundheitssystem – wird unter den Be-dingungen der Covid-19-Pandemie und mit Blick auf begrenzte Klinikkapazitäten noch deutlicher. Ihr rechtzeitiger und konsequenter Einsatz in der konservati-ven und postoperativen Therapie kann Krankenhauseinweisungen verhindern und stationär behandelten Patienten durch zügige Mobilisierung eine ebenso zügige Entlassung ermöglichen. Der therapeutische Erfolg bei Beschwer­den und Verletzungen des Bewegungs­apparates, an denen allein in Deutschland 33 Millionen Menschen leiden, zeigt: Patienten brauchen eine hoch­wertige Orthesenversorgung, die für sie individuell erforderlich ist und sich auf dem neu­esten Stand der Orthopädietechnik befindet. Der hohe Nutzen, den Patienten ihren Hilfsmitteln attestieren, ist auch als Auftrag an die gesetzliche Krankenversicherung zu verstehen, das Hilfsmittelverzeichnis innovationsoffen zu gestalten und damit eine wesentliche Voraussetzung dafür zu schaffen, dass Patienten schneller vom orthopädietechnischen Fortschritt profitieren, indem sich ihre Versorgungssituation verbessert.
Foto: privat

Hohe therapeutische und wirtschaftliche Relevanz 7,8 Millionen Menschen ab 16 Jahren tragen hierzulande ärztlich verordnete Bandagen und Orthesen. Und das mit großer Zufriedenheit und Therapietreue, wie eine repräsentative Bevölkerungsbefragung des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag von Eurocom zeigt. Die Wirkung überzeugt: Durchschnittlich 12,3 Stunden pro Tag tragen Patienten ihre Orthese, dank derer sie weniger Schmerzen haben (58 %) und demzufolge weniger (54 %) oder gar keine (22 %) Medikamente mehr benötigen. Sie können operative Eingriffe vermeiden (21 %) oder verschieben (12 %), sind mobiler (71 %) und können schneller wieder arbei­ten (54 %). Daraus resultiert auch die über­einstimmende Aussage von rund 80 Prozent der befragten Personen, dass sie durch ihr Hilfsmittel den Alltag wieder besser bewältigen können und Lebensqualität zurückgewonnen haben. Angesichts dieser Größenordnung wird der Therapieerfolg auch zu einem ökonomischen Faktor. Denn je eher die Betroffenen wieder mobil werden und beispielsweise schneller an den Arbeitsplatz zurückkehren können, desto größer ist auch der volkswirtschaftliche Nutzen.

Therapieoptionen durch Produktinnovationen

Kennzeichnend für die Verbesserung von Behandlungsmethoden und somit für eine verbesserte Versorgungssituation des Patienten ist, dass neue Therapieansätze und die Neu- bzw. Weiterentwick­lung von Hilfsmitteln eng miteinander verzahnt sind. In einigen Fällen wurden erst durch Produktinnovationen die Behandlungsmethoden verbessert oder neue The­rapieansätze möglich. Wurde beispielsweise früher ein Kreuz­bandriss noch operiert und anschlie­ßend das Bein über mehrere Wochen mit einem Gips ruhiggestellt, weiß man heute, dass die Immobilisierung eher kontraproduktiv für den Heilungsverlauf ist und Patienten dank der mobilisierenden Wirkung von Orthesen buchstäblich wieder auf die Beine kommen. Dieses einfache Beispiel zeigt, wie wichtig für Patienten eine dem aktuellen Stand der medizinischen und orthopädietechnischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung ist – und die Verlässlichkeit eines ungehinderten Zugriffs darauf.

Beratung für schnelleren Innovationszugang

Maßgeblichen Einfluss auf die Versorgungssituation des Patienten hat in diesem Zusammenhang das Hilfsmittelverzeichnis, dient es doch Ärzten und Kos­tenträgern als orientierendes Instrument. Umso wichtiger also, dass es State of the Art ist und nicht Jahre vergehen müssen, bis neuartige Hilfsmittel Eingang finden. Um dies sicherzustellen, ordnete der Gesetzgeber qua Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) und der mit ihm intendierten Qualitätsoffensive die Rund­um-Aktualisierung aller Produktgruppen und deren regelmäßige Fortschreibung an. Dazu beauftragte er den GKV-Spitzenverband mit der Formulierung und Veröffentlichung einer für alle Akteure verbindlichen Verfahrensordnung, die im Oktober 2019 in Kraft trat und seitdem Antworten auf diese Fragen geben soll:

  • Welche Regeln gelten bei der Fortschreibung von Produktgruppen und den damit
  • einhergehenden Stellung­nahmeverfahren?
  • Wie wird sichergestellt, dass Stellung­nahmen tatsächlich Berücksichtigung finden?
  • Welche Nachweispflichten sind für die Aufnahme neuartiger Produkte in das
  • Hilfsmittelverzeichnis zu erfüllen?
  • Und welche Fristen sind einzuhalten?

Unklarheiten sind geblieben. Etwa darüber, wie denn genau der Nachweis des medizinischen Nutzens – als entscheidendes Listungskriterium – zu erbringen sei. Darum wurde erfreulicherweise nach­justiert. Mit dem Medizinprodukte-EU-Anpassungsgesetz (MPEUAnpG) hat der Deutsche Bundestag das Recht des antragstellenden Hilfsmittelherstellers auf ein Beratungsgespräch beim GKV-Spitzenverband am 26. Mai 2020 im Sozialgesetzbuch verankert. Nun gilt es, inhaltliche und formelle Anforderungen des Beratungsgesprächs sowie dessen Ablauf nach eindeutigen, verbindlichen und überprüfbaren Zielkriterien festzulegen. Mit Blick auf die Produktgruppe 23 „Orthesen/Schienen“ ist dies umso dringlicher, als deren Historie durch eine teils kafkaesk wirkende Bürokratie gekennzeichnet ist. Aufgrund fehlender konkret benannter Nachweiskriterien können sich Verfahren rund um Neueinreichungsanträge über Jahre bis Jahrzehnte hinziehen.

Produktarten mit orientierender Wirkung bilden

Zur Beseitigung eines Innovationsstaus innerhalb der Produktgruppe 23 „Orthesen/Schienen“ wäre eine Änderung der Systematik hilfreich, die Eurocom bereits im Rahmen der letzten Fortschreibung von 2018 vorgeschlagen und im Rahmen der aktuellen Fortschreibung erneut vorgebracht hat. Konstitutiv für die Differenzierung der Produktgruppe in Produktuntergruppen und Produktarten sollten demzufolge nicht technische Konstruktionsmerk­male und Materialbeschaffenheiten sein, sondern indikationsbezogene Funktionen des jeweiligen Hilfsmittels, die die Wirkung nicht starr auf eine technologische Umsetzung festlegen. Erreicht würde mit dieser offeneren und auf Wirkweisen bezogenen Struktur die Vermeidung von falschen Eingruppierungen aufgenommener Produkte, die einfachere Integrierbarkeit neuer Produkte und die konsequente Ausrichtung an der therapeutischen Situation des Patienten, die von Fall zu Fall variieren, langfristig oder kurzfristig, geringe, stärkere oder sich steigernde Mobilisierungsanforderungen stellen kann, wie sie beispielsweise abrüstbare Orthesen erfüllen. Ärzte, Orthopädietechniker und Kos­tenträger müssen für ihre Patienten und Versicherten passgenaue Versorgungslösungen haben und sind auf eine gute, weil indikations- und funktionsbezogene Orientierungshilfe des Hilfsmittelverzeichnisses angewiesen.

Foto: Karolina Grabowska/Pixabay
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