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19. Februar 2021
Redaktion

Alles wie gehabt

(01/2021) von Patrick Kolb
Mit der Fortschreibung der Produktgruppe 11 vom 6. Dezember 2018 sollten wesentliche Hindernisse für eine bedarfs­gerechte Versorgung mit Hilfsmitteln gegen Dekubitus beseitigt werden. Wie haben Krankenkassen, Leis­tungserbringer und Hersteller die Änderungen umgesetzt und wie stellt sich die aktuelle Patientenversorgung dar? Eine Bestandsaufnahme.
Foto: Carenetic
Foto: Carenetic

Das Dekubitusproblem ist bekannt: Druckgeschwüre entstehen durch hohen oder lange andauernden Druck auf Haut und Gewebe, beispielsweise durch Bettlägerigkeit oder langes Sitzen im Rollstuhl. Diese Druckbelastung beeinträchtigt Blutfluss und Stoffwechsel, wodurch das Gewebe nicht mehr ausreichend versorgt wird. Es kommt zu Gewebsschädigungen in Form von offenen, schmerzhaften Wunden, die zu weiterem Mobilitätsverlust, Behinderungen und im schlimmsten Fall zum Tod führen.   Dekubitus ist mit hohen Belastungen für Betroffene und pflegende Angehörige sowie mit Folgekosten in Höhe von ca. 4 Mrd. Euro per anno für die Krankenkassen verbunden. Obwohl die Diagnose „Dekubitus“ vermeidbar ist, wachsen die Fallzahlen seit Jahren dramatisch.   Durch den Mangel an Pflegekräften und Veränderungen im häuslichen Umfeld werden Präventionsmaßnahmen wie Bewegungsförderung, Mobilisierung und Positionierung dekubitusgefährdeter Pati­enten nicht mehr in ausreichendem Maße geleistet. Hilfsmitteln gegen Dekubitus, die bei bedarfsgerechter Beratung und Auswahl Lagerungsintervalle verlängern und damit Druckgeschwüren vorbeugen können, kommt daher in der Zukunft eine noch größere Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob sich die Versorgung mit Hilfsmitteln gegen Dekubitus zwei Jahre nach der Fortschreibung verbessert hat.

Eindeutige Gesetzesvorgaben

Nach § 127 Abs. 1 Satz 4 SGB V sind den Verträgen mindestens die im Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 (2) SGB V festgelegten Anforderungen an die Qualität der Versorgung und Produkte zugrunde zu legen. In der Fortschreibung der PG 11 wird diese gesetzliche Bestimmung erstmals mit der wiederkehrenden Formulierung „ist in den Verträgen umzusetzen“ betont. Zweifel daran, den Verpflichtungen aus dem Hilfsmittelverzeichnis nach­kommen zu müssen, dürften demnach bei Krankenkassen, Leistungserbringern und Herstellern nicht bestehen.   Wichtige Grundlagen der Bedarfsermitt­lung und Auswahl von Hilfsmitteln sind bereits seit 2007 im Hilfsmittelverzeichnis verankert. Im Rahmen der letzten Fortschreibung wurden nun u. a. die Angaben zu Dekubitusgraden sowie Labortestwerte bei der Produktlistung gelöscht, ein Erhebungsbogen mit Mindestinhalten eingeführt und wichtige dienstleis­tungsbezogene Grundsätze wie die Beratung und Bedarfsermittlung beim Patienten festgelegt. Um eine zweckmäßige und rechtskonforme Versorgung nach dem Stand der Technik und der medizinischen Erkenntnisse gem. der §§ 2 und 70 SGB V zu gestalten, sind neben dem Hilfsmittelverzeichnis auch die Hilfsmittelrichtlinien, gesetzliche Bestimmungen zum Schutz der Versicherten (u. a. HHVG, MPG i. V. m. MPBetreibV), DIN-Normen, aufsichtsrechtliche Anordnungen sowie der DNQP-Expertenstandard und die Präventions-Leitlinien der EPUAP, die den aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse widerspiegeln, zu beachten.   Es stellt sich bei den aus diesen Grundlagen abzuleitenden Anforderungen nicht die Frage, ob, sondern lediglich wie sie in einen Vertrag nach § 127 (1) SGB V eingebunden werden.

Mangelnde Vertragskonsistenz

Die mit der Fortschreibung verbundenen wesentlichen Änderungen hätten zu­nächst einmal alle Kostenträger dazu ver­anlassen müssen, neue Verträge für die Patientenversorgung mit Hilfsmitteln gegen Dekubitus zu schließen. Dies ist in den letzten zwei Jahren bei weniger als der Hälfte der Kostenträger erfolgt. Vor dem Hintergrund, dass nahezu alle Kostenträger in den letzten Jahren erhebliche Kostensteigerungen in der Wundversorgung beklagen und es ihr Ziel ist, die Ausgabendynamik in den Griff zu bekommen, ist die Passivität bei der Vertragsgestaltung in der PG 11 schwer zu verstehen. Hilfsmittel gegen Dekubitus tragen wesentlich zur Prävention und unterstützenden Therapie und damit zu einer schnelleren Abheilung und Eindämmung der Verbandstoff- und Behandlungskos­ten bei. Ein schlüssiges Vertragskonzept in der PG 11 führt zu Ausgabensenkungen, ohne dass die Hilfsmittelkosten steigen müssen.
Bei den Verträgen, die von Krankenkassen seit der Fortschreibung geschlossen werden, zeigen sich folgende Defizite:

Die Vergütung wird in weiten Teilen der Vertragslandschaft immer noch nach Dekubitusgraden gestaltet, obwohl keinerlei Zusammenhang und Evidenz für die Eignung eines Hilfsmittels bei einer bestimmten Dekubituskategorie besteht. Vor dem Hintergrund, dass in der Fortschreibung hervorgehoben wird, dass „eine Auswahl von Hilfsmitteln nach […] einem Dekubitusstadium,-grad oder der   -kategorie nicht möglich“ ist, sind Verträge von Krankenkassen, die Hilfsmittelleistungen für ihre Versicherten am vorliegenden Dekubitusgrad orientieren, im Grunde nicht zulässig. Diese Vorgehensweise verstellt den Blick auf die wesentlichen patientenindividuellen Kriterien für die Hilfsmittelauswahl, woraus ein erhebliches Fehlversorgungsrisiko und damit eine Patientengefährdung resultieren.
Es werden einzelne Schlagworte oder Anforderungen aus den genannten Quellen redaktionell aufgenommen, um Konformität mit Gesetzgebung und Richtlinien zu erzielen. Die Umsetzung einer zweckmäßigen und bedarfsgerechten Versorgung wird dann aber mit anderen hierzu in Widerspruch stehenden Vertragsinhalten ausgeschlossen. Dass diese Wortkosmetik nicht zu einem guten Versorgungsergebnis führen kann, wird beispielhaft deutlich, wenn auf der einen   Seite der Hinweis„es gilt der DNQP-Expertenstandard“ erfolgt, gleichzeitig aber nur wenige Vertragspassagen weiter der Medizinprodukteberater als ausreichend für die fachliche Qualifikation zur Bedarfserhebung genannt wird. Im Expertenstandard wird hingegen betont, dass die Risiko­ein­schätzung und die Auswahl geeigneter Maßnahmen für die Druckentlastung sowie mit Blick auf die Hilfsmittelversorgung „pflegefachliches Wissen und Können“ erfordert.
Einige Kostenträger beachten redaktionell nahezu alle normativen Vorgaben, sie berücksichtigen im Vertrag dann aber keine entsprechenden Kontroll- und Qualitätssicherungsmaßnahmen. Anstatt ihrer Pflicht zum Vertragscontrolling nachzukommen, lassen sie dem Versorgungsgeschehen freien Lauf. Die Erfassung von Beschwerden oder die Aufnahme zufälliger Kundenbewertungen sind nicht ausreichend. Die PG 11 erfordert geeignete Methoden zur Prüfung, ob Leistungserbringer ihren vertraglichen Pflichten nachkommen, sowie vertragliche Maßnahmen zur Evaluation und Ergebnissicherung der Dekubitusprävention.

Krankenkassen sind häufig schlecht beraten

Da die PG 11 bei den meisten Kostenträgern in die Rehatechnik eingeordnet ist, kommt es in diesem Versorgungsfeld selten zu einer konsistenten, schlüssigen Einzelvertragsgestaltung, bei der zum einen die Anforderungen von Gesetz, Verordnungen und Richtlinien berücksichtigt werden und zum anderen ein strukturierter Versorgungsprozess festgelegt, Beratungsinhalte definiert und schließlich Maßnahmen zur Qualitäts- und Ergebnissicherung fixiert werden. Aus Kostenträgersicht müsste dies in einem der wenigen Versorgungsbereiche, in dem über die Vertragsgestaltung direkter Einfluss auf die Folgekosten der Wund­versorgung genommen werden kann, obligatorisch sein.

Hilfsmittelauswahl nach Dekubitusgrad immer noch vorherrschend

Die von den Herstellern angegebene Eignung ihrer Produkte für bestimmte Dekubitusgrade ist nach Angaben der EPUAP dazu geeignet, über die Eigenschaften eines Hilfsmittels hinwegzutäuschen und damit Patienten zu gefährden. Der GKV-Spitzenverband hat mit der Fortschreibung der Produktgruppe 11 vom 6. Dezember 2018 diesen Kenntnisstand umgesetzt und die Dekubitusstadien, -grade oder -kategorien bei der Produktlistung gestrichen. Ebenso wie die Druckentlastungsklassen, die aus dem Labortestverfahren resultierten, sind die Dekubitusgrade gelöscht worden, weil sie „nicht die Versorgungssituation und den Bedarf pflegebedürftiger Menschen abbilden“ und eine Auswahl nach Wundstadien schlicht „nicht möglich“ ist. Diese Erkenntnis und die daraus folgende Konsequenz für die Vorgehensweise bei der Patientenversorgung ist dem weitaus größten Teil der Leistungserbringer und deren Organisationen offen­sichtlich nicht bekannt. Zumindest wird sie in der Versorgungspraxis nicht umgesetzt. Bei Vertragsverhandlungen wird von Leistungserbringerseite gegenüber den Krankenkassen immer noch angeführt, welche Produkte welchen Dekubitusgrad „abdecken“ können, obwohl hier keinerlei Zusammenhang und Evidenz besteht. Fragen an Leistungserbringer oder Vertreter von Verbundgruppen nach der Vorgehensweise und den Kriterien für die Hilfsmittelauswahl in der PG 11 bleiben unbeantwortet oder es wird die Wund­situation benannt. Diese eingeengte Sichtweise auf den Dekubitus führt dann im Umkehrschluss dazu, dass es aus Sicht der Leistungserbringer nicht unbedingt erforderlich ist, eine Erhebung beim Patienten vor Ort durchzuführen, da ja die Kenntnis des Wundgrades für die Auslieferung des Hilfsmittels genüge und man diesen auch telefonisch abklären könne. Dies konterkariert den in der Fortschreibung hervorgehobenen und umzusetzenden Grundsatz, dass die Beratung und Bedarfsermittlung „am Ort […] des Versicherten stattzufinden hat“. Es ist nach wie vor davon auszugehen, dass die Auswahl von Hilfsmitteln gegen Dekubitus in der Praxis weitestgehend ohne Inaugenscheinnahme des Patienten und seiner spezifischen Situation und damit ohne Berücksichtigung der wesentlichen Einflussfaktoren auf eine bedarfsgerechte Produktempfehlung erfolgt.

Bedarfserhebung oberflächlich und lückenhaft

Da das Produkt vom Fachhandel in erster Linie nach dem Dekubitusgrad ausgewählt wird, führt dies in der weiteren Folge dazu, dass die Bedarfserhebung und deren Dokumentation nicht als substanziell aufgefasst, sondern als Abrechnungs­voraussetzung bewertet wird. Da­mit erklärt sich, warum Erhebungsbögen zur Bedarfsermittlung in der Praxis entweder fragmentarisch und unstrukturiert gestaltet oder Bögen wie der des GKV-Spitzenverbandes oberflächlich und lückenhaft ausgefüllt werden. Lücken fin­den sich daher folgerichtig insbesondere bei der Begründung für die Hilfsmittelauswahl. Gemäß Expertenstandard ist „die Entstehung von Dekubitus […] sehr oft auf eine ungenügende Risikoerkennung und -einschätzung sowie zu spät und mangel­haft durchgeführte Maßnahmen zurückzuführen“. Dennoch wird in den Vertragsverhandlungen immer wieder die Notwendigkeit wichtiger fachlicher Grund­lagen der Dekubitusversorgung infrage gestellt, mit dem Ziel, den damit verbundenen Aufwand und die Kosten zu reduzieren. Bei diesen Bemühungen verwechseln die Leistungserbringer, dass es beim durchaus notwendigen Abbau von Bürokratie und der Standardisierung von Prozessen nicht um das Streichen wesentlicher Leistungen und die Simplifizierung der Patientenversorgung geht. Das Infragestellen wesentlicher Leistungen wie die Bedarfsermittlung beim Patienten vor Ort würde in anderen Versorgungsbereichen wie der Orthopädietechnik zu einem Sturm der Entrüstung führen. In der Dekubitusversorgung ist dies gewöhnliche Praxis.

Kritische Beratungsqualität

Die im HHVG festgelegten und in der Fortschreibung berücksichtigten Beratungspflichten zur Verbesserung der Versorgungsqualität können vom Fachhandel vor dem oben beschriebenen Wissenshintergrund in der PG 11 folgerichtig nur unzureichend erfüllt werden. Da, wo die Vereinfachung der Versorgung im Vordergrund steht und es an der fach­lichen Auseinandersetzung mit dem Thema mangelt, können der Patient und die pflegenden Angehörigen nicht bedarfsgerecht beraten werden. Branchenvertreter beklagten jüngst beim Homecare-Management-Kongress des BVMed die „Reduktion von Dienst­leis­tungsaspekten“ in der Vertragsgestaltung. In der Dekubitusversorgung geht die Vernachlässigung wichtiger Leis­tungsinhalte aus dem Hilfsmittelverzeichnis und die Absenkung des Dienstleistungsniveaus allerdings nicht von den Krankenkassen, sondern von weiten Teilen der Branche selbst aus.

Empfehlung

Um die Anforderungen im HMV zur Verbesserung der Patientenversorgung umsetzen zu können, sollten sich die Leis­tungserbringer und ihre Verbände mit den Grundlagen und den fachlichen Zusammenhängen in der PG 11 auseinandersetzen. Das aktuelle Versorgungsniveau ist bei der überwiegenden Zahl der Fachhändler zwei Jahre nach der Fortschreibung nach wie vor auf die Auslieferung von Hilfsmitteln mit Dekubitusgradetikett beschränkt.

Im Konflikt zwischen Seriosität und Verkaufserfolg

Die Hersteller von Hilfsmitteln gegen Deku­bitus tragen in der gegenwärtigen Situation nicht zu einer Verbesserung der Patientenversorgung bei. Sie werden von den Fachhändlern mit Forderungen nach Produkten konfrontiert, die günstig sein und gleichzeitig das gewünschte Dekubitusgradetikett ausweisen müssen. Im Spannungsfeld zwischen seriösen Leistungsangaben und der Sicherung der Verkaufschancen entscheidet sich der überwiegende Teil der Hersteller für die Dekubitusgrad-Klassifizierung. Einzelne Unternehmen haben ihren Markterfolg gezielten Aussagen zur Dekubitusgradeignung zu verdanken, obwohl es nach § 4 (2) des Medizinproduktegesetzes untersagt ist, Produkte mit irreführender Bezeichnung, Angabe oder Aufmachung zu versehen. Das Hilfsmittelverzeichnis stellt eindeutige Anforderungen an Produktinformationen und Gebrauchsanweisungen. Bei vielen Produkten fehlen nach wie vor Hinweise auf offensichtliche Anwendungsrisiken, Kontraindikationen, Einsatzgrenzen, die Wiedereinsatzfähigkeit oder das anzuwendende Aufbereitungsverfahren für das Hilfsmittel. Ob dies ebenfalls aus Gründen der Absatzsicherung erfolgt oder das Ergebnis einer oberflächlichen Konformitätsbewertung ist, sei dahingestellt. Dem Schutz von Pati­enten und Anwendern und einer Verbesserung der Versorgungssituation ist dies nicht zuträglich.

Fazit

Auch zwei Jahre nach der Fortschreibung kommen die Beteiligten ihrer Verantwortung für eine bedarfsgerechte, wirtschaftliche und zukunftsgerichtete Versorgung von dekubitusgefährdeten Menschen nur unzureichend nach. Dabei mutet das aktuelle Beziehungs- und Wirkungsgeflecht in der Hilfsmittelversorgung wie der gordische Knoten an. Solange er nicht gelöst wird, hat der Patient das Nachsehen.

Foto: Karolina Grabowska/Pixabay
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