Folgen Sie uns
25. Januar 2022
Redaktion
Rollstühle

Individualversorgung oder Massenabfertigung?

Wolf Hartmann, Fachanwalt für Medizinrecht, Reimann Ronnenberg Rechtsanwälte

In den letzten Jahren wurden zahlreiche rechtliche Weichenstellungen vorgenommen, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu stärken. Umso erstaunlicher ist die Tendenz der Kostenträger, im Bereich der Rollstuhlversorgung Einsparpotenziale realisieren zu wollen. Dieser Beitrag soll daher eine Begründungshilfe für Leistungserbringer und Versicherte darstellen, berechtigte individuelle Versorgungskonzepte gegenüber dem Kostenträger argumentativ durchsetzen zu können.
Mann
Foto: 24K-Production/Adobe Stock
Individuelle Versorgungskonzepte im Rollstuhlbereich müssen gut begründet sein.

Der Kostendruck im Bereich der Reha­technik hat in den letzten Jahren deutlichen Spuren hinterlassen. Etliche Versorgungsbereiche sind vertraglich pauschal durch verschiedene Versorgungsmodelle (z. B. Versorgungspauschalen, Wiedereinsatz) geregelt. So manches Versorgungsmodell rentiert sich für Leistungserbringer erst in der Folgepauschale.

Individuelle Belange der Versicherten und damit natürlich auch lukrative Möglichkeiten der Betriebe, durch individuelle Lösungen den Niedrigpreissektor verlassen zu können, werden durch die Kostenträgerseite oftmals übergangen.

Die Kostenträger berufen sich zur Einkürzung von individuellen Lösungen häufig auf angeblich bestehende rechtliche Vorgaben, welche jedoch einer kritischen Bewertung nicht standhalten. Für Menschen mit Behinderung bedeuten schon marginale Einsparungen in der Versorgung regelmäßig weitreichende Einschränkungen ihrer gesellschaftlichen Teilhabe.

Politik, Gesetzgebung und auch das Bundessozialgericht haben in den letzten Jahren rechtliche Weichenstellungen vorgenommen, welche eigentlich die bestmögliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung ermöglichen sollen. Umso erstaunlicher ist die gegenläufige Tendenz der Kostenträger, im Bereich der Rollstuhlversorgung Einsparpotenziale realisieren zu wollen.

Unmittelbarer und mittelbarer Behinderungsausgleich

Seit Jahrzehnten wird in der Rechtsprechung zwischen dem unmittelbaren und dem mittelbaren Behinderungsausgleich unterschieden. Beim unmittelbaren Behinderungsausgleich kann ein Hilfsmittel eine beeinträchtigte Körperfunktion unmittelbar wieder ausgleichen; ein klassisches Beispiel hierfür ist eine Beinprothese.

Im Rahmen dieses unmittelbaren Behinderungsausgleiches hat sich in der Rechtsprechung ein Versorgungsanspruch nach dem Stand der Medizintechnik verfestigt. Alleinige Einschränkung ist hier, dass ein Versicherter die Möglichkeiten der beantragten Leistung für sich persönlich auch umsetzen, die entsprechenden Gebrauchsvorteile also für sich nutzen kann.

Diese einfache Regel gilt beim sog. mittelbaren Behinderungsausgleich leider nicht. Beim mittelbaren Behinderungsausgleich kann die beeinträchtigte Körperfunktion, etwa im Falle einer Querschnittslähmung, durch ein Hilfsmittel nicht direkt wiederhergestellt werden. Es können lediglich die Folgen der Behinderung ausgeglichen oder erleichtert werden.

Da sich die Folgen einer Behinderung in sämtliche Lebensbereiche hinein er­st­recken können, etwas zugespitzt etwa der Mehrbedarf eines Querschnittsgelähmten für die Durchführung einer Amazonas-Expedition, werden die Leistungen der Krankenkassen rechtlich auf den Bereich der Grundbedürfnisse des täglichen Lebens begrenzt.

Nur wenn ein Hilfsmittel zur Sicherstellung dieser Grundbedürfnisse des täglichen Lebens dient, kann es von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen werden.

Bei anderen Zielsetzungen außerhalb der Grundbedürfnisse kann es zur Leistungszuständigkeit anderer Sozialversicherungsträger kommen oder aber dem Versicherten obliegt die Finanzierung aus privaten Mitteln.

Basisausgleich

Diese inhaltliche Eingrenzung der Behinderungsfolgen auf die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens wird auch als sogenannter Basisausgleich bezeichnet. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Leistungen im Basisausgleich eine schlechte Qualität haben dürfen, sondern lediglich, dass bestimmte private Zielsetzungen, wie etwa die Durchführung von Auslandsreisen, nicht in den Leistungsbereich der Krankenkasse fallen.

Fällt die Zielsetzung in die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens, so gilt auch beim mittelbaren Behinderungsausgleich der Grundsatz, dass Leistungen dem Stand der Medizintechnik entsprechen müssen, wenn der Versicherte von der verbesserten Leistungsqualität wahrnehmbar profitieren kann.

Ein Versicherter muss sich z. B. nicht auf einen Leichtgewichtsrollstuhl verweisen lassen, wenn er mit einem Aktivrollstuhl eine bessere Sitzposition erzielen und sich damit besser bzw. schmerzärmer im Innenbereich der Wohnung bewegen kann. Benötigt er aus medizinischen Gründen eine individuelle Sitzschale, kann er nicht auf einen konfektionierten Rollstuhlsitz verwiesen werden.

Umgedreht besteht kein Anspruch auf einen Aktivrollstuhl, wenn der Versicherte diesen nicht mehr selbstständig benutzen und er in einem Leichtgewichtsrollstuhl bei kurzer täglicher Nutzungsdauer vergleichbar gut sitzen kann.

Allgemeine Grundbedürfnisse

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gehören zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums (BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010, Az. B 3 KR 13/09 R).

Das Grundbedürfnis auf Erschließung eines körperlichen Freiraums umfasst die Bewegungsmöglichkeit in der eigenen Wohnung und im umliegenden Nahbereich. Anknüpfungspunkt für die Reichweite des Nahbereichs ist der Bewegungsradius, den ein Nichtbehinderter üblicherweise zu Fuß zurücklegt. Mit Blick auf die Rollstuhlversorgung bedeutet dies, dass ein Versicherter sich im Innenbereich der Wohnung und im örtlichen Wohnumfeld frei bewegen können muss.

Der Rollstuhl muss das selbstständige Wohnen und die Durchführung von Einkäufen ermöglichen. Wenn der Versicherte sich durch einen Elektrorollstuhl oder einen Zusatzantrieb für einen manuellen Rollstuhl selbstständig fortbewegen kann, muss er sich nicht auf eine passive Brems- und Schiebehilfe verweisen lassen.

Mit Urteil vom 12. August 2009 (Az. B 3 KR 8/08) hat das Bundessozialgericht festgehalten, dass es das wesentliche Ziel der Hilfsmittelversorgung sei, dass behinderte Menschen nach Möglichkeit von der Hilfe anderer Menschen unabhängig, zumindest aber deutlich weniger abhängig werden. Da auch das Stehen ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens ist, besteht ein Anspruch auf einen Rollstuhl mit Stehfunktion, wenn der Versicherte selbst nicht mehr stehen kann.

Die Stehfunktion ermöglicht überdies die Erweiterung des eigenen Aktionsradius‘ und damit ebenfalls das selbstständige Wohnen sowie das selbstständige Durchführen von Einkäufen. Ähnliche Vorteile ermöglicht eine Hubfunktion, selbst wenn hiermit ein Stehen nicht ermöglicht wird. Ein Versicherter muss sich nicht auf die ergänzende Versorgung mit einem Stehtrainer verweisen lassen, dies erfordert personalintensive Transfers und kann damit nur in engen zeitlichen Grenzen stattfinden, sodass es sich nicht um eine vergleichbar effektive Alternative handelt.

Selbst wenn es mit Blick auf die Versorgungsrealität sinnvoll erscheint, besteht kein grundsätzlicher Anspruch auf eine Zweitversorgung, etwa für den Innen- und Außenbereich. Die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens müssen jedoch konsequent und in zumutbarer Weise ermöglicht werden, sodass mit Blick auf die individuelle Situation regelmäßig ein Anspruch auf zwei Rollstühle besteht.

So muss sich ein Versicherter nicht auf die Versorgung nur mit einem Elektrorollstuhl verweisen lassen, wenn er im Innenbereich einen Aktivrollstuhl noch selbstständig antreiben kann und sicher zu erwarten ist, dass eine ausschließliche Benutzung des Elektrorollstuhls zum Abbau der Restmuskulatur führen würde.

Ein Versicherter muss weder gesundheitliche Folgeschäden hinnehmen noch vermeidbare Schmerzen bei der Rollstuhlversorgung. So kann bei besonders schmerzempfindlichen Versicherten im Einzelfall die Situation vorliegen, dass im Innenbereich ein besonders wendiger Innenbereichsfahrer versorgt werden muss und im Außenbereich ein besonders gut gefederter Außenbereichsfahrer.

Wohnumfeld und Teilhabeverminderung

Von den Krankenkassen wird oft eingewendet, dass eine bestimmte Versorgung alleine wegen einer individuellen Wohnsituation (enge Türen, Stufen vor dem Eingang, hügeliges Wohnumfeld) benötigt würde und daher kein Versorgungsanspruch bestehe. Die hierzu in der Vergangenheit tatsächlich bestehende Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes ist jedoch mit Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes (BTHG, niedergelegt im aktuellen SGB 9) nicht mehr aufrechtzuerhalten.

Nach dem aktuell gültigen gesetzlichen Behinderungsbegriff wird eine Behinderung durch die Teilhabeverminderung definiert, welche in Wechselwirkung des körperlichen Defizits mit umweltbedingten Barrieren besteht. Das Bundessozialgericht hat mit drei Urteilen vom 15. März 2018 (Az. B 3 KR 18/17 R, B 3 KR 12/17 R, B 3 KR 4/16 R) festgehalten, dass dieser gesetzliche Behinderungsbegriff beim hilfsmittelgestützten Behinderungsausgleich anzuwenden ist. Wenn sich also eine individuelle Wohnsituation als umweltbedingte Barriere darstellt, welche zu einer Teilhabeverminderung führt, ist dies von der Krankenkasse zu beachten.

Bei der Beurteilung sind etwaige Wertungsspielräume positiv zu besetzen. Denn nach der Rechtsprechung des BSG aus dem Jahr 2020 ist die Hilfsmittelversorgung im Rahmen des mittelbaren Behinderungsausgleiches nicht auf eine Minimalversorgung beschränkt (Urteil vom 7.5.2020, Az. B 3 KR 7/19 R). Leistungsvoraussetzung ist daher nicht, dass ein Hilfsmittel ohne jegliche Alternative zwingend erforderlich ist, um die Grundbedürfnisse des täglichen Lebens zu ermöglichen.

Ausreichend ist es bereits, wenn das Hilfsmittel wesentlich dazu beitragen oder zumindest maßgebliche Erleichterung bringen würde, Versicherten auch nur den Nahbereich im Umfeld der Wohnung (z. B. bei Einkäufen oder Arzt- und Apothekenbesuchen) in zumutbarer Weise zu erschließen.

Ständiger Streitfall: Transfermöglichkeit in den Pkw

Regelmäßig wird ein Rollstuhl benötigt, welcher einen Transfer in den Pkw erlaubt. Dies sollte im Jahr 2021 angesichts der Tatsache, dass gerade Menschen mit Behinderung deutlich mehr von der Nutzung eines Pkws abhängig sind, unter Anwendung der UN-Behindertenrechtskonvention und des Bundesteilhabegesetzes eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.

Das BSG hat jedoch im Jahr 2002 entschieden, dass ein Hilfsmittel, welches ausschließlich dem Transfer eines Rollstuhls des Versicherten   in den Pkw dient (sog. Rollstuhlboy), nicht von der GKV finanziert werden muss. Aus dieser Entscheidung leiten Krankenkassen ab, dass auch die Bauart des Rollstuhls einen Pkw-Transfer nicht ermöglichen muss. Argumentiert ein Versicherter mit der Notwendigkeit eines Transfers in den Pkw, verfestigt sich schnell die Ablehnungshaltung der Kasse.

Regelmäßig wird in der GKV die Auffassung vertreten, dass ein Elektrorollstuhl für den Innen- und Außenbereich sämtliche Versorgungsbereiche vollständig abdeckt. Für Fahrten zur Arztpraxis oder in die Therapie könnten Krankentransporte in Anspruch genommen werden, was in zahlreichen Konstellationen tatsächlich jedoch nicht möglich ist.

Der Transport zur Arztpraxis im Pkw fällt dann in die Zuständigkeit der Krankenkasse, wenn bei Bestehen einer besonderen gesundheitlichen Situation keine andere Möglichkeit der Erreichbarkeit besteht. In diesem Fall hat auch der Rollstuhl die entsprechende Beschaffenheit aufzuweisen (BSG, Urteil vom 20. 11. 2008, Az. B 3 KR 6/ 08 R). Ist der Transfer in einen Pkw aus beruflichen Gründen notwendig, kann dies von der Krankenkasse nicht ignoriert werden, da ebenfalls Aspekte der beruflichen Teilhabe zu beachten sind, auch wenn die Krankenkasse selbst hierfür nicht zuständig ist. Können Ärzte und Therapeuten mit einem sperrigen Elektrorollstuhl schlichtweg nicht aufgesucht werden, ist auch dies zu beachten.

Vollständiges Versorgungskonzept

Das Bundesteilhabegesetz gibt vor, dass die Krankenkasse, welche einen Versorgungsantrag nicht an einen anderen Sozialversicherungsträger weiterleitet, ein vollständiges Versorgungskonzept unter Berücksichtigung sämtlicher Aspekte der Teilhabe zu erstellen hat (BSG, Urteil vom 15. März 2018, Az. B 3 KR 18/17 R).

Hierzu zählen neben der medizinischen Rehabilitation Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, der Bildung und der sozialen Teilhabe. Zu berücksichtigen ist nach dem BSG „dabei das gesamte materielle und soziale Umfeld“ des Versicherten einschließlich dessen „individueller privater und beruflicher Lebensgestaltung“.

Streitfall Fahrtauglichkeit

Immer wieder werden Elektrorollstühle mit dem Hinweis abgelehnt, der Versicherte verfüge nicht über die notwendige Fahrtauglichkeit im Straßenverkehr. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine Fahrtüchtigkeit nach dem Maßstab für das Führen eines Kfz erforderlich wäre. Der Elektrorollstuhl soll die beeinträchtigte Fähigkeit des Gehens wieder herstellen bzw. ausgleichen, dieser soll nicht als Kfz-Ersatz fungieren. Hier geht es um eine Fortbewegung von bis zu 6 km/h auf dem Bürgersteig und nicht um eine Geschwindigkeit von 250 km/h auf der Autobahn.

Das BSG hat insoweit im Urteil vom 12. August 2009 (AZ: B 3 KR 8/08 R), ausgeführt, dass Versicherte mit einem Elek­trorollstuhl bestimmungsgemäß umgehen können müssen. Rollstuhlnutzer müssen daher lediglich in der Lage sein, die Technik des Fahrens mit einem solchen Rollstuhl zu beherrschen, und darüber hinaus auch die Straßenverkehrsregeln insoweit einhalten, als sie für das Fahren mit einem führerscheinfreien Fahrzeug gelten (Bay. LSG, Urteil vom 14. Januar 2010 (Az. L 4 KR 189/09).

Das Sozialgericht Marburg hat im Gerichtsbescheid vom 14. November 2017 (Az. S 6 KR 127/16) sogar entschieden, dass ein entgegenstehendes TÜV-Gutachten, welches sich auf das Führen eines Kfz bezieht, in dem betreffenden Rechtsstreit nicht verwertbar war. Das Sozialgericht Dresden hat insoweit ausgeführt, dass der Benutzung eines Elektrorollstuhls auch nicht entgegenstehe, dass ein Versicherter bei Benutzung eines Elektrorollstuhls im Außenbereich auf die ständige Begleitung einer Hilfsperson angewiesen sei (Urteil vom 20. Januar 2010, Az. S 25 KR 365/08).

Auch bei der dauerhaften Einnahme starker Schmerzmittel (Opiate) oder von medizinischem Cannabis kommt es lediglich darauf an, ob ein Versicherter mit dem Elektrorollstuhl für den intendierten Gebrauch sicher umgehen kann. Die Einnahme von Betäubungsmitteln bei Nutzung eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr ist dann nicht rechtswidrig, wenn diese nach ärztlicher Verschreibung bestimmungsgemäß für einen bestimmten Krankheitsfall eingenommen werden (§ 24 a Abs. 2 StVG).

Auch Blinde haben Versorgungsanspruch

Mit Beschluss vom 4. Oktober 2021 (AZ.: L 16 KR 423/20) hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen entschieden, dass ein an Multipler Sklerose erkrankter blinder Versicherter einen Versorgungsanspruch auf einen Elektrorollstuhl hat. In dem entschiedenen Fall wurde der Versicherte bisher mit einem manuellen Rollstuhl versorgt, den er aufgrund eines Fortschreitens seiner Grunderkrankung nicht mehr selbstständig antreiben konnte.

Zusammen mit einem Blindenlangstock konnte der Kläger sich jedoch sicher fortbewegen. Die beklagte Krankenkasse verweigerte die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl, da der Kläger nach ihrer Auffassung aufgrund seiner Blindheit nicht verkehrstauglich sei. Im Gerichtsverfahren wurde durch einen Sachverständigen jedoch nachgewiesen, dass der Kläger auch im Elektrorollstuhl seinen Langstock gut einsetzen könne und damit eine ausreichende Verkehrssicherheit bestehe.

Das LSG wies darauf hin, dass eine Sehbehinderung kein genereller Grund sei, eine Verkehrstauglichkeit beim Einsatz von Elektrorollstühlen abzulehnen. Etwaige Restrisiken seien dem Bereich der Eigenverantwortung des Klägers zuzuordnen und von der Krankenkasse in Kauf zu nehmen. Das LSG hat dem neuen dynamischen Behinderungsbegriff eine besondere Bedeutung eingeräumt.

Die zentrale Aufgabe des Hilfsmittelrechtes ist es, Menschen mit Behinderung ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und sie eben nicht von sämtlichen Lebensgefahren fernzuhalten und damit einer weitest gehenden Unmündigkeit anheimfallen zu lassen.

Keine Beschränkung auf vertraglich geregelte Hilfsmittel

Einige Krankenkassen versuchen das Leistungsspektrum in der Rollstuhlversorgung zur Kostensenkung auf die rahmenvertraglich geregelten Versorgungsbereiche zu begrenzen. Der gesetzliche Anspruch auf Hilfsmittelversorgung ist aber keinesfalls auf solche Vertragshilfsmittel beschränkt, wenn diese keine ausreichende Versorgung ermöglichen.

Insoweit betont das BSG immer wieder, dass selbst das Hilfsmittelverzeichnis keine abschließende Rechtswirkung hat und insoweit im Einzelfall auch ein Versorgungsanspruch auf nicht gelistete Hilfsmittel bestehen kann. Diese Rechtsprechung gilt natürlich erst recht für außervertragliche Hilfsmittel, welche im Hilfsmittelverzeichnis gelistet sind.

Ergänzende Ansprüche gegenüber der Pflegeversicherung

Viele Krankenkassen halten an der – nach dem Bundesteilhabegesetz eigentlich unzulässigen – Rechtsauffassung fest, dass sie weder für Besonderheiten der individuellen Wohnsituation noch für die Erreichbarkeit von Arztpraxen verantwortlich sind und dies bei der Auswahl des richtigen Hilfsmittels nicht zu berücksichtigen ist. Sofern ein Pflegegrad beim Versicherten besteht, kann ergänzend auf die Regelungen der gesetzlichen Pflegeversicherung im SGB XI zurückgegriffen werden.

Nach dem mit dem Pflegestärkungsgesetz eingeführten neuen Pflegebegriff sind nicht mehr alleine die klassischen Bereiche Körperpflege, Ernährung, Mobilität pflegerelevant. Der Begriff der Pflege wurde deutlich erweitert, sodass insbesondere Arztbesuche und Besuche in therapeutischen Einrichtungen pflegerelevant sind.

Ebenfalls pflegerelevant sind die Gestaltung von Alltagsleben und sozialer Kontakte, das Sichbeschäftigen, Interaktion mit Personen im direkten Kontakt sowie die Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfelds. Sofern die Benutzung eines Rollstuhls diese Pflegebereiche betrifft, ist dieser neben dem Behinderungsausgleich auch als Pflegehilfsmittel zu leisten.

Foto: Karolina Grabowska/Pixabay
Person
Zurück
Speichern
Nach oben